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DEN GLAUBEN IN DEN HERZEN IEDER SICHTBAR WERDEN LASSEN


Manchmal möchte er verzweifeln: er Kampf eines jungen polnischen Priesters m die Verwurzelung des katholischen Glaubens in Rußland

/ Von Erik Händeler



TAGANROG (DT). Warum wird dieser Mann nicht müde? Seit 36 Stunden ist der 33 Jahre alte Priester Jaroslaw Wisniewski auf den Beinen. Dreimal hintereinander hat er an diesem Ostern Gottesdienst gefeiert – Samstagmittag zuerst in Wolgadonsk in einer angemieteten Betonsilowohnung unter Deutschstämmigen. Dann um acht Uhr abends in Bataisk bei Rostow, einer Gemeinde fast nur aus Jugendlichen. Um Mitternacht warten Familien in einem Konzertsaal in Taganrog am Schwarzen Meer auf den hageren Mann in der abgeschwetzten Soutane. Dreimal hintereinander feiert er die Messe – hört konzentriert zu, singt, erzählt. Er ermuntert die Menschen, trotz der Armut nicht nut für ihr tägliches Brot zu beten, sondern das ewige Leben zu suchen. Zwischendurch bringt er über siebenhundert unberechenbare Kilometer russische Landstraße hinter sich. Den beigen Gelände – Lada hat „Kirche in Not“ erst im vergangenen Herbst gespendet.

 

Zurück in seinem Pfarrhaus in Bataisk nahe Rostow am Don ist er um sieben Uhr früh immer noch nicht mit seinem Dienst fertig. Kinder zerren an seinen Arm. Geduldig beruhigt er einen betrunkenen Vater, der laut und gestikulierend in die Kapelle wankt, wo der Rest der Gemeinde – etwa ein Duzend Menschen – die Osternacht durchwacht hat. Bis zum späten Frühstück gegen Mittag bleibt Jaroslaw noch bei ihm. Zwie Stunden Schlaf kann er sich gönnen, dann organisiert er die Abendmesse in der Kapelle. 1992 haben Katholiken, die den Kommunismus im nahen Rostow im Untergrund überdauert haben, das damals heruntergekommene Häuschen in Bataisk gekauft. Von hier betreut Jaroslaw Wisniewski vier Gemeinden im Umkreis von 250 Kilometern.

 

Mit Spenden eines italienischen Priesters konnte es Jaroslaw in jahrelanger Arbeit renovieren. Seine Kapelle hat er eigenhändig ausgemalt. Die Motive zeigen Heilige Rußlands, aber vor allem Franz von Assisi, der die Kirche seiner Zeit erneuerte. Mit diesem Vorbild vor Augen kam Jaroslaw Wisniewski vor fünf Jahren aus Polen in dieses ehemals christliche Land – unerfahren, mit leeren Händen, aber mit einer Menge Ungeduld. Um. Wie er erzählt, „den vorhandenen Glauben in den Herzen deutlicher zu machen.“

 

Aber so vieles, seien es nun Behördengänge, der mörderische Straßenverkehr oder das Mißtrauen mancher Russen brachten ihn seit damals immer wieder fast zum Verzweifeln. Für seine Umgebung – die die katholische Kirche aus mexikanischen Filmen kennt und den Papst aus den Nachrichten, wenn er wieder ein Land besucht – gehört er zwar inzwischen zum normalen Straßenbild. Aber die Hürden, die er überwinden muß, sind höher als die fehlenden Kirchen und seine eigene Velassenheit: Sein größter Kampf ist, sich von kopfschüllelnden Zeitgenossen nicht entmutigen zu lassen. „Nicht wenige auf der Straße meinen, es sei in dieser Zeit besser, Kondome zu verkaufen, als eine Kirche zu bauen“, sagt der junge Priester.

 

Im Rathaus von Taganrog am Asowschen Meer scheint es dann, als ob er alles hinwerfen wolle. Fünfzig Mal hat er hier schon darum gebeten, wieder in der ehemaligen katholischen Kirche Gottesdienste feiern zu dürfen, die heute als Jugendbibliothek genutzt wird, wenigstens Sonntags, für zwei Stunden. Aber selbst das genehmigt die Stadt nicht. Dabei würde es der Gemeinde genügen, wenn sie das Pfarrhaus wieder bekäme. Zwar schreiben mehrere Gesetze vor, den Kirchen ihr ehemaliges Eigentum zurückzugeben. Der Oberbürgermeister ist jedoch nict bereit, den Priester zu empfangen, schickt ihn zu anderen Dienststellen, die wieder nicht zuständig sind. Das kostet Zeit und zerbürbt. Die Stadt bietet der Pfarrgemeinde das ehemalige Pfarrhaus zum Kauf an – wenn die Gemeinde für die Bewohner andere Wohnungen ersteht und das zweihundert Jahre alte Gebäude nach ihren Auflagen renoviert. „Wir sollen also dreimal für etwas bezahlen, was uns laut Gesetz sowieso gehört“, sagt Jaroslaw.

 

„Gebt uns mehr Zeit“, bittet ihn ein Verantwortlisher im Rathaus, als das Gespräch festgefahren ist. „Bis jetzt haben wir schließlich gegen jede Religion gekämpft“. In Taganrog tummeln sich neben der „richtigen“ russisch – orthodoxen Kirche zwanzig zum Teil recht erfolgreich werdende Religionsgemeinschaften – evangelikale Gruppen aus den Vereinigten Staaten, Splitterkirchen und andere Sekten. Hilflos stehen die im Sowjetaparat großgewordenen Beamten vor der Aufgabe, die Informationen einzuordnen und Religion von Repression zu unterscheiden.

Jaroslaw Wisniewski arbeitet auch da in einer Stadt, die typisch russisch ist: Der wichtige Schwarzmeerhafen in Taganrog bringt Steuereinnahmen, die irgendwo in Moskau verschwinden. Die meisten Fabrikkken stehen still, und viele der 200 000 Einwohner haben seit Dezember keine Löhne oder Renten ausbezahlt bekommen. Das Rathaus trägt das Defizit der Lokalzeitung „Taganrog Prawda“ – und kontrolliert die Zeitung so auch inhaltlich. Wen interessieren Gesetze über die Rückgabe von Kircheneigentum?

 

1806 hatten hier die meist deutschen armenischen oder italienischen Katholiken begonnen, mit Geld aus der Schatulle des Zaren eine Kirche zu bauen. Sie selbst kamen nur für die Einrichtung auf. Nach der Revolution von 1917 sprengten die Bolschewiken den Kirchturm, entfernten das Kreuz vom Giebel und richteten 1933 eine Jugenbibliothek ein. Im benachbarten Rostow am Don, wo es sechstausend Katholiken gab, wurde die Kirche gleich ganz abgetragen. Der letzte Pfarrer Jürgen Lang 1936 nach Sibirien verschleppt – verhungerte 1941.

 

1991 gab es nur noch in Moskau und St. Petersburg je einen katholischen Priester, bis der Vatikan Erzbischof Thaddäus Kondrusiewicz nach Moskau schickte. Die russisch – orthodoxe Kirche schlug damals noch Alarm: Rußland sei nach kanonischem Recht allein orthodoxes Gebiet. Aber der katholische Bischof in Moskau hätte selbst keine bessere Informationskampagne starten können, erzählt Jaroslaw: Von überall dort, wo – wie in Taganrog und Rostow – Katholiken mit Wohnzimmerandachten überlebt hatten, meldeten sich Gemeinden beim Bischof. Der konnte ihnen nur raten, eine Immobilie zu besorgen, damit ein Priester die Pfarrei wiederaufbauen könne. Inzwischen gibt es 103 katholische Priester im europäischen Teil von Russland - meist aus Wießrußland, dem Baltikum oder aus Polen. Vierzig Seminaristen studieren in Moskau, sechzehn bereiten sich im Ausland auf die Priesterweihe vor. Allein vier davon kommen aus den Gemeinden von Jaroslaw Wiśniewski.

 

Die Lebengeschichte des polnischen Priesters ist ein Spiegel für seine Zeit. Als Kind rettet er sich vor seinem Vater, einem Alkoholiker, in die Kirche. Nach der Erziehung in einem kommunistischen Internat, in dem er russisch, deutsc und englisch lernt, wird er erst wieder religiös, als Papst Johannes Paul II. 1979 nach Polen kommt und den Menschen verkündet, sie haben eine eigene Würde, Freiheiten und Rechte.

Weil er die Beamten im Musterungsausschuß wüst beschimpft, landet Jaroslaw für drei Monate im Gefängnis – sie komme ihm wie drei Jahre vor. Zu viert in einer engen Zelle, in der gerade genug Platz ist, seine Sitzhaltung zu ändern, erlebt er, wie er heute sagt, „eine unbegrenzte spirituelle Freiheit“. Die will er anderen Menschen mitteilen. Und er will den Atheismus eindämmen, den er im Kommunismus kennengelernt hat. Nach der Entlassung geht er deshalb ins Priesterseminar. Obwohl es damals undenkbar erscheint, spricht er von Anfang an davon, den Glauben in Rußland wieder lebendig zu machen. Seine Noten dort – sind befriedigend und ausreichend, also schlecht, weil er kaum lernt. Er kümmert sich lieber um Menschen im Krankenhaus, um Kinder oder um sein intensives Gebetsleben – „eine erfüllte Zeit“.

 

Ein Jahr lang arbeitet er anschließend in einem Dorf mit sechshundert Einwohnern. Drei Schnapsläden hat der kleine Ort. Viele Kinder bekommen dort von ihren alkoholabhängigen Eltern nichts zu essen. Mit den Kindern demonstriert er gegen die Sucht, zündet Kerzen vor jenen Häusern an, in denen Wodka schwarz verkauft wird. Zumindest in der Fastenzeit kann der Kaplan die Schließung der Schnapsläden erzwingen, weil er droht, es gebe sonst keine Kommunion an Ostern – eine „kommunistische Methode“, wie er zugibt. Als der 28 Jahre alte Anfänger dann auch noch seinen Bischof kritisiert, der nach der Weihe eines Feuerwehrautos am anschließenden Alkoholgelage teilgenommen hat, „ist die Zeit reif, nach Russland zu gehen“.

 

Er trifft am selben Tag beim Moskauer Bischof ein wie der Brief, der ihn ankündigen sollte. Der Bischof ist gerade auf dem Weg nach Rostow und nimmt Jaroslaw mit. Zwei Tage später ist er nach über 55 Jahren der erste katholische Priester in der 1,3 – Millionen – Stadt Rostow. Sein Leben hier beginnt in einem Studentenwohnheim. Gottesdienste feiert er in einem Puppentheater.

 

Nicht jede Stadt wehrt sich wie Taganrog gegen die katholische Kirche. Die Stadt Rostow stellt der Gemeinde zum Bau einer Kirche ein Grundstück im Stadtpark kostenlos zur Verfügung. Zuerst scheint der Plan aussichtslos, weil dafür niemand Geld hat. Überraschend bietet der deutsche Unternehmer Hubert Liebherr, Vorstand im Verein „Kirchen für den Osten“ an, mit eigenen Arbeiten eine Holzkirche hochzuziehen – mit siebzig Quadratmetern hat sie heute Platz für einhundert Menschen.

 

In Bataisk, von Jaroslaw ursprünglich nur als Wohnort für die Arbeit in Rostow gedacht, hat sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Schule eine eigene Gemeinde, die fast nur aus Jugendlichen besteht, entwickelt. Dadurch hat Jaroslaw ernste Schwierigkeiten bekommen. Aufgebrachte Eltern drohten ihm, er sei doch für Rostow gemeldet und habe hier nichts zu suchen. Kosaken fügten hinzu, sie würden seine „illegale“ Kapelle zerstören und ihn entweder zurück nach Polen oder gleich in den Himmel befördern.

Also bat Jaroslaw den Bischof von Moskau, Bataisk beim Staat offiziell zu einer Gemeinde zu erheben, was dieser nur sehr zögernd tut. Denn die Politik des Vatikan ist es, frühere Gemeinden wiederzubeleben und möglichst keine neuen zu gründen, um die orthodoxe Kirche nicht zu verstören. Ausgerechnet eine hochrangige Dame der Geheimpolizei sorgt dafür, dass der Pfarrer von den wütenden Eltern und Kosaken unbehelligt bleibt. Zugute kam Jaroslaw dabei, dass er, nachdem Ärzte nicht mehr weitergewusst haben, mit verhaltensauffälligen Kindern regelmäßig gebetet und dabei geholfen hat, die Schlafstörungen der Kinder zu beseitigen.

 

Die Kirche bemüht sich um die Ökumene. Westliche Hilfswerke versorgen daher auch zum Teil die russisch – orthodoxe Kirche als Hauptkraft der Neuevangelisation. Jaroslaw singt in seinen Gottesdiensten Lieder der ökumenischen Jugendgebetsortes Taiźe (Südfrankreich), und er besucht einmal im Jahr den orthodoxen Bischof. Aber dessen Priester nehmen Jaroslaws Einladungen nicht an – die orthodoxe Kirche fürchtet vereinnahmt zu werden.

 

Jaroslaw bezeichnet seine Gemeinde ironisch als „die kleinste Sekte“ am Ort. Finanzielle Hilfe bekommt er nicht. Für eine Holzkirche in Wlagodonsk zweihundert Kilometer von dem ehemaligen Stalingrad, wo er Deutschstämmige betreut, benötigt er dringend finanzielle Hilfe. Die Miete für die Wohnung, in der sich die Gemeinde trifft, hat er seit Februar nicht bezahlen können, und er weiß nie, woher das Benzingeld für den nächsten Monat kommt. Seit ihm im vergangenen Herbst „Kirche in Not“ (im deutschen Königstein) einen Lada gesponsort hat, fährt er nicht mehr mit den unzuverlässigen und langsamen öffentlichen Verkehrsmitteln. Ansonsten sind seine zeitraubenden Bettelbriefe in den Westen so erfolglos geblieben, dass er gar keine mehr schickt.

 

Die katholische Kirche in Deutschland hat über ihr Hilfswerk Renovabis seit 1993 mit 140 Millionen Mark 2500 Projekte in 27 mittel- und –osteuropäischen Ländern gefördert – Russland ist mit knappeiner Dreiviertel Millionen Mark Renovabis-Hilfe bisher fast vergessen worden. Das mag ein Grund sein, warum sich der Priester Jaroslaw Wisniewski in manchen Momenten auf einsamen Posten fühlt.

 

Vor zwei Jahren zog er sich daher aus Verzweiflung fünf Monate lang in ein polnisches Franziskanerkloster zurück – weil er, wie er heute sagt, noch nicht akzeptiert hatte, nicht allmächtig zu sein. Er weiß jetzt, dass er nur arbeiten kann, bis seine Kraft zu Ende ist. Aber dann müsse er die Dinge eben Gott überlassen.